Veranstaltungsbericht | veröffentlicht am 13.06.2022

Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulen stärken“

von Klaus Lüber

Die fünfte Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulleitungen stärken“ am 23. und 24. Mai 2022 widmete sich dem System Schule aus ganzheitlicher Perspektive. 150 Teilnehmende aus Schulen, Landesinstituten, Kultusministerien und der Zivilgesellschaft beschäftigten sich mit Themen wie Unterrichtsentwicklung, Prüfungskultur und Qualifizierung von Lehrkräften und Schulleitungen.

Foto: Phil Dera / CC BY 4.0

Ein schmaler, schneebedeckter Grat irgendwo ganz oben in den Bergen. Rechts und links geht es steil abwärts, wir tasten uns langsam voran. Aber warum eigentlich? Wäre es nicht besser, sofort umzukehren und in sichere Bereiche abzusteigen? Andererseits: Man hat es ja bis hierhin geschafft. Und der Gipfel ist fast schon in Sichtweite…

Die aus der Sicht eines Kletterers aufgenommene schwindelerregende Bergtour dürfte zu einem der einprägsamsten Sequenzen der an Bildern, Grafiken und kurzen Videoclips überreichen Keynote des Schweizer Bildungsvisionärs Roger Spindler zählen, mit dem die fünfte Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulleitungen stärken“, gemeinsam veranstaltet vom Forum Bildung Digitalisierung, der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, ihren Einstieg fand. In einem wahren Feuerwerk an inspirierenden Impulsen und Fakten ging es Spindler vor allem darum, die Debatte um digitale Bildung auf eine neue Stufe zu heben. Die Pandemie war in vielerlei Hinsicht ein Gamechanger, richtig! Wir haben große Fortschritte darin gemacht, die Fähigkeiten in Worte zu fassen, die wir unseren Schüler:innen zur Bewältigung einer immer komplexeren Welt mitgeben wollen, korrekt! Aber jetzt müsse es darum gehen, das neue Denken auch im System Schule selbst zu verankern, so Spindler. Was wir dringend bräuchten, wäre eine Vision!

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Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse

Bei den Anwesenden kamen die Impulse des Schweizers sehr gut an. Schließlich hatte man sich genau dazu getroffen: Zum einen den Austausch dazu zu suchen, was bereits erreicht wurde, zum anderen aber auch gemeinsam zu überlegen, wohin die Reise gehen könnte. Die Kultur der Digitalität, so die Stimmung unter den Teilnehmenden, sei im Kern ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, der Ausdruck eines tiefgehenden gesellschaftlichen Wandels, der sich bei weitem nicht in Fragen der technischen Infrastruktur erschöpft, die lange Diskussionen dominierte. Auch dazu hatte Spindler ein schönes Bild, entlehnt dem OECD-Lernkompass 2030: Zwei Kurven, die eine die Technik, die andere die Bildung, sie sich umeinander winden wie zwei Schlangen. Einmal ist die eine dominant, dann die andere. Bildung und technologische Entwicklung, so Spindlers Punkt hier, stehen in ständiger Interaktion und müssen immer wieder neu justiert werden. Es braucht einfach seine Zeit, sich in der zunehmenden Multiperspektivität unserer Gegenwart neu auszurichten. 

Ein gutes Beispiel für solche Aushandlungsprozesse war dann auch der Workshop, den Spindler zusammen mit Katharina Swinka, Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz, anbot. Es ging, ganz in Anlehnung an seine Keynote, um „Visionsentwicklung von Schule in der Kultur der Digitalität“. Das Setting im großen Tagungsraum der Landesvertretung SchleswigHolstein in Berlin war ganz angelegt auf maximale Kreativität, im Raum verteilt vier Tafeln, an denen einzelne Gruppen Ideen für besonders innovative Bildungskonzepte sammelten. Der Arbeitsauftrag: Cross-Innovation. Man nehme auf den ersten Blick bildungsferne Branchen wie Wohnungsbau, Mobilität, Energie, Tourismus und verknüpfe sie mit dem System Bildung zu etwas Neuem. Am Ende entstanden daraus Ideen wie ein Lehrkräftecasting auf den Seychellen oder „Up-Schooling“, ein Konzept, das Schulbau mit recycelten Materialien vorzieht.

So weit, so innovativ. Nur einmal, als Swinka die Teilnehmenden um einen Impuls zur Frage einholte, woran man den spontan denke, wenn man das Stichwort „digitales Klassenzimmer“ höre, brach wieder etwas durch von der Realität, die offenbar auch im Jahre 2022 noch in vielen Schulen und Klassenzimmern anzutreffen ist. „Nicht funktionierendes WLAN, Whiteboards, Tablets“ war das, was den Anwesenden sofort in den Sinn kam. Eine Schülerin – Schüler:innen nahmen ebenfalls am Workshop teil – nannte die berühmt-berüchtigten, eingescannten, per E-Mail verschickten Arbeitsblätter.

KMK-Ergänzungsempfehlung „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“

Wie wichtig Aushandlungsprozesse auch im bildungspolitischen Sinne sind, dafür ist die im Dezember 2021 veröffentlichte Empfehlung der KMK „Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ ein gutes Beispiel. Das Dokument spielte, wenn man so will, die Hauptrolle in der Fachtagung. Nachdem eine Entwurfsfassung des Ergänzungspapiers zur KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ im April letzten Jahres den Stakeholdern vorgelegt wurde, „kam das Feedback vieler Akteure: Sorry, so geht das nicht“, berichtete zumindest Dorit Stenke, Staatssekretärin im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig Holstein. Und so wurde der Vorschlag überarbeitet zu einer Endfassung, welche die ganze Tragweite des Wandels auf den Punkt bringt, den wir gerade erleben. Viele der dort formulierten rund 40 „prioritären Maßnahmen“ lesen sich so, als ob man die Debatte um Digitaltechnik endlich und ein für alle Mal hinter sich gelassen hätte. Lehr-Lern-Szenarien, so heißt es darin etwa, sollten es ermöglichen, „sich ein verlässliches Bild von der Welt zu machen“ und „reflektiert die Bedeutung bestimmter Werte und Normen für den Einzelnen und die Gesellschaft einzuordnen“. 

Natürlich wird es wie immer darum gehen, solche Zielsetzungen in die Tat umzusetzen. Es muss debattiert, diskutiert und nachjustiert werden. Und genau dazu sollte die Fachtagung einen Rahmen geben. „Die Idee war es, einerseits die Impulse aus dem diesjährigen KMK-Präsidentschaftsthema ‚Lernen aus der Pandemie‛ mitzunehmen, um über die Visionen von Schule in einer Kultur der Digitalität nachzudenken, sich dann aber auch, basierend auf dem KMK-Ergänzungspapier und der prioritären Maßnahmen, der konkreten Umsetzung anzunähern“, so Daniel Böhme vom Forum Bildung Digitalisierung. Die rund 150 Teilnehmenden hatten die Gelegenheit sich in insgesamt sechs Workshops zu Themen wie zeitgemäßer Prüfungskultur und Unterrichtsentwicklung, Lehrkräftebildung, kollaborativer Professionalität sowie Schulleitungsqualifizierung auszutauschen.

Vom Nowland zum Nextland

Bis auf den Workshop zur Visionsentwicklung von Schule in der Kultur der Digitalität  wurde in allen anderen Workshops mit dem Methodenkonzept „Vom Nowland zu Nextland“ der Technischen Universität Hamburg (TUHH) gearbeitet. Dabei geht es zunächst darum, einen Ist-Zustand zu beschreiben (Nowland) und um dann eine Vision für das jeweilige Thema zu formulieren (Nextland). Die spannende Frage ist dann natürlich, wie man von einem Ufer zum anderen kommt, welche Maßnahmen also für die Umsetzung der Vision notwendig sind. Das Ergebnis ist eine Sichtbarmachung im wörtlichen Sinne, als eine Landkarte, die mögliche Lösungsstrategien visualisiert und dokumentiert.

Wenn es um die Beschreibung des Ist-Zustandes ging, so war Heterogenität der wahrscheinlich am häufigsten verwendete Begriff. Das Nowland, so hieß es etwas aus der Arbeitsgruppe zur Unterrichtsentwicklung, ist diffus, Ähnliches hörte man aus dem Workshop zur Prüfungskultur. Die Lösung? Vernetzung, Austausch, von anderen lernen, sich Unterstützung holen. Eine Teinehmende des Workshops zur Schulleitungsqualifizierung brachte es auf den Punkt: „Erst dann erleben wir so etwas wie Digital Leadership, und kommen weg von diesem Spruch: Sorry, ich möchte ja, aber mein WLAN ist zu schlecht.“ Oder, um es mit den Worten Roger Spindlers zu formulieren, nur so ist es möglich, das Spiel neu zu spielen statt das alte Spiel ein bisschen besser.

Informeller Austausch

Für Dorit Stenke, heißt das vor allem, in Bewegung zu bleiben. „Wir müssen die Ebenen Schul-, Personal- und Unterrichtsentwicklung neu durchdeklinieren. Und mit unseren Diskursen die Veränderungen abbilden, die wir sehen wollen.“ Und um genau diesen Diskurs zu ermöglichen, stand auch ein eigenes Vernetzungsformat auf dem Programm der Fachtagung, in dem sich die Teilnehmenden nicht nur angeleitet innerhalb der Workshops, sondern auch informell zu gerade drängenden Themen austauschen konnten. Dies zunächst sortiert nach Bundesländern, dann in Zufallskombinationen zusammengestellt. 

Vor allem die Austauschmöglichkeit auf Landesebene wurden von vielen dankbar aufgenommen. Trotz regionaler Nähe und kurzer Dienstwege, so hörte man im Nachgang, konnte man sich auf einer Ebene austauschen, die im Arbeitsalltag gar nicht so selbstverständlich sei, wie man annehmen könne. 

In den Diskussionen selbst waren die Themen breit gestreut. Brandenburg und Hamburg konzentrierten sich auf das Thema Prüfungskultur und debattierten den interessanten Ansatz, vielleicht letztlich erst über eine rechtliche Verbindlichkeit eine substanzielle Veränderung des Unterrichts bewirken zu können. „Nur dann haben die Lehrer:innen die nötige Sicherheit für Veränderungen.“ Bei den Vertreter:innen aus Nordrhein-Westfalen wurde, ganz im Sinn der großen Fragestellung der Fachtagung, über den Begriff einer Kultur der Digitalität gesprochen. „Von digitalen Formaten zu sprechen, klingt für mich ehrlich gesagt wenig sinnvoll“, so war zu hören. „Eigentlich müssen wir Kompetenzen unabhängig von digitalen Tools entwickeln.“

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Den Wandel behutsam managen

Diesen Punkt machte auch Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn, auf dem Abschlusspodium der Veranstaltung. „Die Frage, die uns hier alle umtreibt, ist, wie wir Unterricht zukunftsfähig gestalten können und dabei alle Schüler:innen mitnehmen. Dabei geht es um Partizipation an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Rahmenbedingungen, die nicht nur rezeptives Lernen beinhalten, sondern dazu befähigen, Zukunft zu gestalten. In all diesen Settings spielt Digitalisierung zunächst gar keine Rolle.“ Dennoch habe man es unter den Bedingungen der Digitalität natürlich noch einmal neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu tun.

Wilfried Kühner, Amtschef der Steuerungsgruppe „Bildung in der digitalen Welt“ der KMK, war es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, wie viel Stress dabei auch entstehen kann und wie wichtig es ist, den Wandel behutsam zu managen. „Wir müssen aufpassen, dass der Digitalpakt nicht vor allem als Bürde wahrgenommen wird, schließlich stehen die Länder in Rechenschaftspflicht. Und auch die im KMK-Papier formulierten Maßnahmen sind ja nicht mal eben schnell umzusetzen. Das müssen wir von Beginn an offen besprechen.“

Wie entscheidend auf diesem Weg rechtliche Rahmenbedingungen sind, darauf wies KMK-Generalsekretär Udo Michallik in der Schlussrunde noch einmal hin. „Mir hat ein Schulleiter neulich berichtet, Digitalisierung sei für ihn das, was übrig bleibt, wenn der Datenschutz einmal drüber gegangen ist. Hier brauchen wir dringend mehr Freiräume.“ Freiräume, die dann aber natürlich auch genutzt werden müssen. „Dazu gehört natürlich auch der Mut, neue Wege zu gehen“, so Jacob Chammon, Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung. „Ich spüre noch zu oft diese Haltung ‚haben wir schon, machen wir schon‘, wenn es um Beispiele für neue Unterrichtsformate geht. Aber dann muss man sich ehrlich fragen: Warum ist das alles noch nicht in der Breite angekommen? Genau hier müssen wir ansetzen.“

Dokumentation der Veranstaltung

Auf dieser Seite finden Sie eine Dokumentation der Veranstaltung. Zusätzlich zu den Aufzeichnungen der Keynote von Roger Spindler, Leiter Höhere Berufsbildung und Weiterbildung an der Schule für Gestaltung Bern und Biel, sowie der Abschlussdiskussion haben wir weitere interessante Impulse aus den Workshops sowie die Graphic Recordings für Sie zusammengestellt. Außerdem finden Sie in unserem Online-Magazin Plan BD zwei lesenswerte Interviews mit Roger Spindler und Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn