Interview | veröffentlicht am 02.11.2021

KonfBD21 | Birgit Eickelmann: „Wir brauchen neuere, agilere Strukturen“

von Klaus Lüber

Wie schaffen es Schulen, mit der hohen Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen mitzuhalten? Jedenfalls nicht mit dem Justieren einzelner Stellschrauben, sondern nur, indem man das Gesamtsystem in den Blick nimmt, findet Birgit Eickelmann, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn im Interview zur Konferenz Bildung Digitalisierung vom 10. bis 12. November 2021.

Frau Eickelmann, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung vor allem mit den Anforderungen an unser Bildungssystem durch die Digitalisierung. Was müssen Schulen heute leisten, um sinnvoll auf eine zunehmend digitalisierte Welt vorzubereiten?

Schulsysteme und Schulen müssen verstehen, dass sich ihr Bildungs- und Erziehungsauftrag mit gesellschaftlichen Veränderungen wandelt. Der Auftrag bleibt. Aber der Kontext und damit die Ausgestaltung unterliegen einer zunehmend hohen Dynamik, mit der unsere Innovationsstrukturen aus dem analogen Zeitalter nicht mehr mithalten können. Wir brauchen also neue, agilere Strukturen. Viele Schulen zeigen uns hier schon, wie es geht. Von denen können wir alle lernen. Der Versuch, doch noch einmal das Alte zu verbessern und ein wenig abzuändern, reicht nicht.

Worum geht es bei den neuen, digitalen Kompetenzen, die Schüler:innen vermittelt werden sollen?

Grundsätzlich ist die Frage, wie die Schule ihre gesellschaftliche Qualifikations- und Sozialisationsfunktion erfüllen kann. Dazu muss die Frage gestellt werden, welche Kompetenzen denn überhaupt in der Schule gefördert werden müssen. Und zwar so, dass alle Kinder und Jugendlichen davon profitieren. Zunehmend ist man sich einig, dass der kompetente und kritische Umgang mit digitalen Medien eine Schlüsselfunktion ist. Aber im Grunde genommen geht es um viel mehr als um rezeptive Kompetenzen. Es geht um die Befähigung zur Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft in einer von Digitalisierungsprozessen geprägten Welt. 

Sie haben einmal bemängelt, dass wir Qualität digitaler Lernsettings zu stark an Endgeräten messen. Ist das immer noch so? Und was wäre sinnvoller?

Ja, wir hängen da in Deutschland oft in einer Endlosschleife: Schulen und Schulträger müssen sich für technische Ausstattung entscheiden, die Entscheidungen tragen über Jahre und prägen das Lernen und Lehren. Jetzt wäre die Zeit, digitale Lernausstattung – und übrigens auch den zugehörigen Support – dauerhaft zu sichern und zu modernisieren, sodass die Lernprozesse und Lerninhalte in den Vordergrund rücken. Gleichsam beobachte ich, dass die Verfügbarmachung von Ausstattung oft als bildungspolitischer Erfolg gefeiert wird und als erledigt abgehakt wird. Andere Länder gehen da anders vor, sichern Kontinuität und beziehen sich nicht nur auf den Unterricht, sondern denken auch an die Transformation des Arbeitsplatzes Schule.

Die Pandemie, so heißt es, hat einen Digitalisierungsschub in den Schulen ausgelöst. Täuscht der Eindruck, oder bilden sich gerade zwei Lager: Diejenigen, die weiterhin eher positiv gestimmt sind und die, die einen Fallback prognostizieren?

Das ist auch genau mein Eindruck. Viele Schulen nehmen den Drive aus der Pandemiezeit jetzt mit und transferieren diesen in zukunftsfähige Entwicklungen. Andere Schulen wundern sich, dass die Rückkehr zum Alten zwar zunächst einfacher erscheint, aber dann die Schritte Richtung Zukunft wieder anstrengender werden. Was Schulen jedoch sehr herausfordert: Die Lagerbildung ist auch in den Kollegien einzelner Schulen vorzufinden. Das macht Schulentwicklungsprozesse sehr herausfordernd und erfordert eine starke Schulleitung für ein Digital Learning Leadership.

»Zum einen reicht es nicht, an einzelnen Stellschrauben zu drehen. Das machen wir in Deutschland seit Jahren. Vielmehr muss das Gesamtsystem in den Blick genommen und verändert werden.«
Birgit Eickelmann Professorin für Schulpädagogik, Universität Paderborn
Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit schulische Innovationsprozesse wirklich nachhaltig sind?

Wir haben in der Forschung nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten die Stellschrauben und Mechanismen herausgearbeitet. Man kann eine ganze Liste von Erfolgsfaktoren nennen: Schulleitungshandeln, technische Ausstattung, die zu den pädagogischen Zielsetzungen der Schule passt, Lehrkräftekooperation als Grundlage für eine kontinuierliche Professionalisierung und vieles mehr. Zwei Dinge fallen aus einer europäischen und einer internationalen Perspektive auf: Zum einen reicht es nicht, an einzelnen Stellschrauben zu drehen. Das machen wir in Deutschland seit Jahren. Vielmehr muss das Gesamtsystem in den Blick genommen und verändert werden. Die EU spricht hier von einem „Digital Education Ecosystem“. Zum anderen müssen wir verstehen, dass sich der Arbeitsplatz Schule verändert, kontinuierliche Professionalisierung erfordert und dafür müssen die Zeitressourcen in Arbeitszeitmodelle eingepreist werden. Von nichts kommt nichts.

Sie betonen immer wieder, dass es hierbei nicht um die Faszination der Technologien, sondern um die Faszination des Lernens geht, also um zeitgemäße und zukunftsfähige Lernangebote. Haben wir das schon in ausreichender Weise verinnerlicht?

Es gibt viele Menschen in Deutschland in den Schulen und in Entscheidungsfunktionen, die verstanden haben, dass die Begeisterung für das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund stehen. Das ist sehr ermutigend, aber gleichsam auch ernüchternd, wenn einen die Realität dann schnell wieder einholt. Die Entwicklungen müssen immer im Abgleich mit den technischen Möglichkeiten stehen und damit im Austausch mit denen, die etwa als Sachaufwandsträger die pädagogische Brille nicht aufhaben müssen. Dazu benötigt man übergeordnete Zielsetzungen. Übrigens darf das Technologische durchaus faszinieren. Wir haben in unserem europäischen DigiGen-Projekt, das wir auf der Konferenz ja auch vorstellen, viele Hinweise von den Kindern und Jugendlichen bekommen, welche Lerntechnologien sie begeistern oder sie sich wünschen würden.

Wir haben in Deutschland nach wie vor eine unerfreulich hohe Kopplung des Bildungserfolgs in der digitalen Welt mit der sozioökonomischen Lage der Lernenden. Wie könnten wir diese Situation verbessern?

Ja, das Problem muss endlich angegangen werden. Früher hieß es immer: Problem erkannt, Problem gebannt. Es gibt ja viele gezielte Ausstattungsinitiativen. Das ist ein erster Schritt. Man kann hier aus den Theorien des Digital Divides lernen: Ausstattung ist Schritt 1. Dann kommt die Nutzungsperspektive, die Motivation und dann die digitalen Kompetenzen. Was kann Schule also beitragen, damit alle Kinder und Jugendlichen Technologien kompetent, kritisch, kreativ und kooperativ nutzen? Was motiviert sie und wie können diese im schulischen Bildungsraum motiviert werden, aus den Möglichkeiten eigene Lebens- und Berufsperspektiven zu entwickeln, Anregungen durch Schule für ihr Leben zu bekommen? Und wie schaffen wir es, dass bei der nächsten ICILS-Studie nicht noch einmal herauskommt, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen eigentlich nur „Klicken und Wischen“ kann? Wir müssen dazu im Unterricht, in allen Fächern, bei den Lehrkräften, an den schulischen Konzepten und an den Curricula ansetzen. In Deutschland machen wir oft noch den Denkfehler und hoffen auf die Eltern. Die Pandemiezeit war ein Sinnbild dafür. In anderen Staaten denkt man anders: Schulen stellen alles für das Lernen bereit. Dazu gehören multiprofessionelle Teams und moderne Ausstattung, auch mit neuen, modernen Formen beispielsweise von Schulbibliotheken.

Prof. Dr. Birgit Eickelmann ist Professorin für Schulpädagogik an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der digitalen Schulentwicklung und der Transformation von Schulen und Schulsystemen im 21. Jahrhundert. Seit fast 20 Jahren erforscht sie mit einer international und europäisch vergleichenden Perspektive die Entwicklung von Schule und Unterricht unter den Bedingungen gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse. Für Deutschland leitet sie die IEA-Studien ICILS (International Computer and Information Literacy Study 2013, 2018 und 2023). Auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 stellt sie gemeinsam mit Kolleg:innen aus dem Projektteam und nationalen Stakeholder:innen am 11. November 2021, 11:45 bis 12:45 Uhr im Rahmen einer Session das von der EU geförderte Horizon-Projekt DigiGen vor.