Interview | veröffentlicht am 04.11.2021

KonfBD21 | Jöran Muuß-Merholz: „Digitalisierung kann ein mächtiger Verstärker sein“

von Klaus Lüber

Die digitale Transformation erfasst alle Bereiche unserer Gesellschaft und verlangt eine ganzheitliche Perspektive. Dabei sei es entscheidend, sich den Wandel als laufenden Prozess bewusst zu machen, für den es keine fertigen Rezepte, sondern weiter viele Fragen zu klären gebe, findet Jöran Muuß-Merholz, Bildungsexperte und Erziehungswissenschaftler, der Agentur für Bildung J&K – Jöran und Konsorten. Anlässlich der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 haben wir mit ihm gesprochen.

Herr Muuß-Merholz, schon seit Jahren wird über die Notwendigkeit digitaler Kompetenzen diskutiert. Sie sagen, wir brauchen neben Lesen, Schreiben und Rechnen gar keine neue, „vierte“ Kulturtechnik. Warum?

Ich behaupte nicht, dass es keine neuen Kompetenzen gibt, die wir entwickeln müssen. Aber die Rede von einer „vierten Kulturtechnik“ hat eine problematische Nebenwirkung. Sie führt dazu, dass sich bis heute viele Akteure im Bildungsbereich als „nicht zuständig“ sehen. Das Thema digitale Kompetenzen wird quasi „Digital-Spezialist:innen“ zugeordnet, verbunden mit der falschen Annahme, dass alle anderen weitermachen könnten wie zuvor. Das darf nicht passieren, denn der digitale Wandel stellt sich nicht neben, sondern transformiert das Bestehende. Schreiben ist im digitalen Zeitalter nicht mehr dasselbe wie Schreiben in prä-digitalen Zeiten, Lesen ist im digitalen Zeitalter nicht mehr dasselbe wie Lesen in prä-digitalen Zeiten, und Rechnen ist im digitalen Zeitalter nicht mehr dasselbe wie Rechnen in prä-digitalen Zeiten. Alle Fachbereiche müssen sich mit ihrer Transformation beschäftigen.

Welche Rolle spielen digitalen Medien in der Neugestaltung von Lehren und Lernen?

Durch Digitalisierung wird Lehren oder Lernen nicht per se einfacher, schneller, billiger, demokratischer, vielfältiger, moderner, überwachter oder motivierter. Digitalisierung kann jedoch ein mächtiger Verstärker sein – aber nicht in eine vorgegebene Richtung. Deswegen müssen sich alle Akteure im Bildungsbereich fragen: Was wollen wir durch digitale Medien verstärkt wissen? Und welche Verstärkungen wollen wir vermeiden?

Lange ging es darum zu identifizieren, welche Kompetenzen Schüler:innen in Zukunft vermittelt werden sollten. Aber haben wir uns schon genug Gedanken darüber gemacht, über welche Kompetenzen Lehrende verfügen müssten, um diese zu vermitteln?

Es gibt entsprechenden Systematiken. Nach meinem Eindruck ist das Digital Competence Framework for Educators (DigCompEdu) schon einigermaßen bekannt, das es inzwischen auch in einer deutschsprachigen Übersetzung gibt. Gleichzeitig ist der digitale Wandel ja ein laufender Prozess, für den wir nicht nur fertige Rezepte anwenden, sondern weiterhin viele Fragen klären und Lösungen herausfinden müssen. Dieser „Herausfinde-Modus“ ist anstrengend, aber er ist auch die Chance, das Lehren gestalten und weiterentwickeln zu können.

»Durch Digitalisierung wird Lehren oder Lernen nicht per se einfacher, schneller, billiger, demokratischer, vielfältiger, moderner, überwachter oder motivierter. Digitalisierung kann jedoch ein mächtiger Verstärker sein – aber nicht in eine vorgegebene Richtung.«
Jöran Muuß-Merholz Bildungsexperte und Erziehungswissenschaftler, J&K – Jöran und Konsorten
Von vielen Akteur:innen wird ein „digitaler Bildungsraum“ angestrebt, der alles bündeln und standardisieren soll, was in verschiedenen Bildungsbereichen in Deutschland digital passiert. Eine gute Idee?

Ich finde die Entwicklungen sehr spannend. Meine Prognose: Die Schwierigkeiten des Anspruchs eines digitalen Bildungsraums werden massiv unterschätzt. Und zwar nicht in erster Linie wegen technischer Schwierigkeiten, sondern wegen der real existierenden Gegebenheiten. Man kann technisch nur solche Dinge gut abbilden, die „in der echten Welt“ klar und einheitlich existieren. Das Bildungswesen in Deutschland ist eher das Gegenteil davon. 

Viele Schulleiter:innen und Lehrer:innen beklagen die Mehrbelastung, die die Entwicklung innovativer didaktischer Konzepte unter den Bedingungen der Digitalisierung mit sich bringen. Wie könnte man hier unterstützen? Die von der Politik kürzlich beschlossenen „Bildungskompetenzzentren“ scheinen ja wohl leider vom Tisch zu sein.

Da bin ich vorsichtig. Mit Stand von heute (31. Oktober2021) diskutieren gerade Schulverantwortliche aus mehreren Bundesländern, wie der Koalitionsvertrag auf Bundesebene in Sachen Bildungspolitik aussehen wird. Auch wenn man sich nicht auf das bisher angestrebte Konzept einigen konnte, bleibt das Thema höchst relevant. Die Mehrbelastung ist real und lässt sich auch nicht vollständig aus der Welt schaffen. Umso wichtiger ist ein breites und intelligentes Unterstützungssystem für die Menschen, die in und mit Schulen arbeiten.

Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge und betreibt mit einem kleinen Team die Agentur „J&K – Jöran und Konsorten“. Als Think-and-Do-Tank arbeitet das Team an den Schnittmengen zwischen Bildung & Lernen und Medien & Kommunikation. Neben beratenden und konzeptionellen Arbeiten der Agentur schreibt Jöran Muuß-Merholz für Fach- und Massenmedien, print und online, von Blog bis Buch. Jöran Muuß-Merholz hält Vorträge und gibt Workshops v.a. im deutschsprachigen Raum, aber zum Beispiel auch in Boston und Brno, Cape Town und London, Stockholm und Tokio. Auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 diskutiert er gemeinsam mit unseren anderen Gästen am 11. November 2021, 18:00 bis 19:00 Uhr auf dem Panel „Digitale Didaktik 2030 – Unterrichtsvisionen strukturell verankern“ über nachhaltige digitale Unterrichtsentwicklung.