Interview | veröffentlicht am 09.11.2021
KonfBD21 | Nina Bremm: „Wir brauchen eine Revolution in der Lehrkräftefortbildung“
von Klaus Lüber
Was gutes Lernen ausmacht, ist inzwischen gut untersucht – kontextarmes repetitives Wiederholen gehört jedenfalls nicht dazu. Trotzdem greifen viele Schulen immer noch darauf zurück. Warum dies so ist und was dagegen zu tun wäre, erläutert Nina Bremm, Professorin für Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Wie Schulen sich weiterentwickeln können, ist Thema ihrer Keynote auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021.
Frau Bremm, unser Bildungssystem steht unter dem Druck sich weiterzuentwickeln. Aber bis auf die Programme einiger Vorreiter-Schulen tut sich in der Breite bislang noch zu wenig. Woran liegt das?
Das hat natürlich nicht nur einen Grund. Wir sehen auch international, dass Reformbemühungen in Bildungssystemen nicht so leicht in Gang zu bringen sind, wie technologisch geprägte Ansätze aus dem Management es vermuten ließen. Bildungseinrichtungen als komplexe Expert:innenorganisationen lassen sich im besten Fall gut verwalten – und genau dies ist ja auch die Tradition des bürokratisch geprägten deutschen Bildungssystems. Qualitätsentwicklung, wie sie in den letzten 20 Jahren stärker in den Blick genommen wird, erfordert hingegen eine Professionalisierung und eine Kohärenz von Entwicklungsbemühungen auf allen Ebenen des Bildungssystems. Und hier hakt es offensichtlich.
Wie kann man die Schulen in diesem schwierigen Prozess unterstützen? Sie selbst erproben gerade einen Ansatz namens „Design-basierte Schulentwicklung“ an Berliner Schulen. Worum geht es da?
Schulen sollen dabei unterstützt werden, ihre eigene Problemlösekompetenz und somit auch Kapazitäten der kollektiven Organisationsentwicklung zu stärken. Ausgangspunkt sind dabei immer die konkreten Leidenschaften oder Probleme der Praktiker:innen vor Ort. Zentral ist zudem, dass nicht nur Schulen, sondern auch Wissenschaft, Bildungsadministration und Unterstützungssysteme zusammenarbeiten. Ziel ist es, neben der einzelschulischen Entwicklung, Lernen und Kohärenzbildung auf allen beteiligten Ebenen des Bildungssystems zu erzielen.
Es ist inzwischen wissenschaftlich recht gut untersucht, was gutes Lernen ausmacht – etwa der Bezug zur Lebenswelt und die Gelegenheit, an Problemen zu arbeiten, die für die Lernenden selbst Relevanz haben. Warum tun sich immer noch viele Schulen hierzulande so schwer, dies auch in der Unterrichtspraxis zu berücksichtigen?
Weil es in den wenigsten Schulen die Kultur, Zeit und den Raum für Pädagog:innen gibt, sich zu Lerntheorien und fachdidaktischen Ansätzen auszutauschen und tiefgreifende Lerngespräche unter Erwachsenen zu führen. Der Druck ist groß, die Schüler:innen auf zentrale Prüfungen vorzubereiten. Und dafür greift man oft auf Methoden des Drills und der Automatisierung zurück – im Glauben, die Lernenden damit bestmöglich in ihrem weiteren Lebensweg zu unterstützen. Auch wenn eine solche Strategie wenig motivierend ist und auch in den seltensten Fällen zu langfristigen Lernerfolgen führt.
»Pädagog:innen brauchen konkrete Anlässe aus ihrem Arbeitsalltag, sowie zeitliche aber auch kulturelle Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, in kollektive Lernprozesse zu kommen – etwa im Rahmen von professionellen Lerngemeinschaften.«Nina Bremm Professorin für Schulentwicklung, Pädagogische Hochschule Zürich
Forderten Sie deshalb kürzlich eine Revolution in der Lehrkräftefortbildung?
Genau. Wir müssen solche Räume für tiefgehenden Austausch schaffen. Pädagog:innen brauchen konkrete Anlässe aus ihrem Arbeitsalltag, sowie zeitliche aber auch kulturelle Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, in kollektive Lernprozesse zu kommen – etwa im Rahmen von professionellen Lerngemeinschaften. Dadurch können wir auch wissenschaftliche Erkenntnisse viel stärker einbinden, was – wie wir aus der Forschung wissen – bislang nur in den wenigsten Schulen passiert. Es scheint die Arbeit „am konkreten Fall“ zu sein, die nachhaltige Professionalisierungsprozesse und kollektives Lernen in Gang setzen kann .
Wie gut Schulentwicklungsprozesse funktionieren, ist immer auch eine Frage des professionellen Selbstverständnisses. Deutschen Pädagog:innen ist es besonders wichtig, individuelle Entscheidungen zu treffen – basierend auf ihrem selbst erworbenen Wissen. Ist das ein Hinderungsgrund für die grundlegenden Veränderungsprozesse, die aktuell anstehen?
Nein, das würde ich ganz klar zurückweisen. Das zeigt auch ein Blick auf die USA, die ja viel stärker auf Implementierung von Programmen und somit auch eine Beschränkung der professionellen Freiheit setzen und große Schwierigkeiten im Bereich Fachlichkeit und Tiefenstruktur des Unterrichts haben. Ich denke, der Blick in Deutschland sollte sich stärker auf das Verhältnis von Kooperation und Kontrolle im Spannungsverhältnis von Bürokratie, Aufsichtsfunktionen und Qualitätsentwicklung richten. Die Frage ist, inwieweit die Logiken, Anreize und Vorgaben des Bildungssystems Anlass für kollektive Professionalisierung in Bildungsinstitutionen und lebenslanges Lernen von Pädagog:innen bieten, beziehungsweise diese eher hemmen oder befördern.
Eine der Hauptherausforderungen bleibt die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg – besonders an Schulen in sozial benachteiligter Lage. Wo stehen wir und wie können wir die Situation verbessern?
Die Situation ist nach wie vor beschämend. Die gesellschaftliche Verantwortung dafür allein den Bildungsinstitutionen aufzubürden, wäre aber zu kurz gegriffen. Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse bilden sich in Bildungsinstitutionen ab und werden in der Regel innerhalb dieser reproduziert. Wir brauchen einen öffentlichen Diskurs über herkunftsabhängige Begabung- und Leistungszuschreibungen, schulische Normalitätserwartungen und Deutungshoheiten. Zudem wären bildungspolitische, administrative und finanzielle Rahmenbedingungen nötig, die Anreize und Ermöglichungsräume für kontextsensible, lernförderliche und humane Praktiken in Schulen schaffen.
Prof. Dr. Nina Bremm ist Professorin für Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmässig mit Fragen der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit in Bildungsinstitutionen und kontextsensibler Schul- und Bildungssystementwicklung. Während der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 hält sie am Freitag, 12. November 2021, um 11:45 Uhr die Keynote „Wie gut sind Schulen darin sich weiterzuentwickeln?“.