Frau Müller, Sie sind Leiterin einer Schule, die schon 2009 mit der Digitalisierung begonnen hat. Wie haben Sie die Pandemie erlebt?
Bei uns sind alle Kinder ab der siebten Klasse mit elternfinanzierten iPads ausgestattet und können online über die Plattform IServ mit den Lehrer:innen kommunizieren. Insofern fiel es uns relativ leicht, ein Homeschooling-Konzept zu erarbeiten. Was uns dabei noch einmal sehr deutlich wurde: Arbeit mit digitalen Tools muss strukturiert sein. Das Konzept des „Lernens im eigenen Tempo“ wäre in einer solchen Situation für unsere Schüler:innen noch nicht das Richtige gewesen.
Man weiß schon lange: Die Bereitschaft zur Veränderung ist im deutschen Bildungssystem noch nicht so groß, als dass die Potenziale digitalen Unterrichts sich voll entfalten könnten. Hat die Krise hier substanziell etwas verändert?
Leider nein. Und ich fürchte im Augenblick sogar, dass wir einen Rückschritt erleben werden. Viele Lehrer:innen haben die Krise als eine große Überforderung empfunden, Digitale Technologien wurden als Notlösung wahrgenommen. Nun ist der Wunsch spürbar, endlich wieder zu etablierten Unterrichtskonzepten zurückzukehren, statt sich die Frage zu stellen, was veränderte Lernsettings überhaupt bedeuten könnten. Im Moment steht nicht der Entwicklungs-, sondern der Überforderungsgedanke im Vordergrund.
Selbst wenn die Bereitschaft zur Veränderung da ist: Lassen die Rahmenbedingungen diese überhaupt zu?
Genau daran müssen wir dringend arbeiten. Es gibt einfach sehr viele Dinge, die nicht mehr zeitgemäß sind: das Arbeitszeitmodell für Lehrende, curriculare Vorgaben, der Schulbau und vieles mehr. Ich denke, wir brauchen einen echten System-Hack, wir müssen das System Schule neu aufsetzen. Aber den Mut hat im Augenblick noch niemand. Was auch daran liegt, dass die Entwicklung nicht prozessorientiert gestaltet ist. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, bringt das System aber nicht mit einer neuen Vision nach vorne.