Interview | veröffentlicht am 26.10.2021

KonfBD21 | Silke Müller: „Schüler:innen sollten selbstwirksame Momente erleben dürfen“

von Klaus Lüber

Wie muss sich Schule verändern? Und wie können Lehrkräfte zu Akteur:innen des Wandels werden? Wir müssen ganz neu in gesellschaftliche Aushandlungsprozesse gehen, findet Silke Müller, Schulleiterin der Waldschule Hatten. Anlässlich der Konferenz Bildung Digitalisierung vom 10. bis 12. November 2021 haben wir ihr fünf Fragen gestellt.

Frau Müller, Sie sind Leiterin einer Schule, die schon 2009 mit der Digitalisierung begonnen hat. Wie haben Sie die Pandemie erlebt?

Bei uns sind alle Kinder ab der siebten Klasse mit elternfinanzierten iPads ausgestattet und können online über die Plattform IServ mit den Lehrer:innen kommunizieren. Insofern fiel es uns relativ leicht, ein Homeschooling-Konzept zu erarbeiten. Was uns dabei noch einmal sehr deutlich wurde: Arbeit mit digitalen Tools muss strukturiert sein. Das Konzept des „Lernens im eigenen Tempo“ wäre in einer solchen Situation für unsere Schüler:innen noch nicht das Richtige gewesen.

Man weiß schon lange: Die Bereitschaft zur Veränderung ist im deutschen Bildungssystem noch nicht so groß, als dass die Potenziale digitalen Unterrichts sich voll entfalten könnten. Hat die Krise hier substanziell etwas verändert?

Leider nein. Und ich fürchte im Augenblick sogar, dass wir einen Rückschritt erleben werden. Viele Lehrer:innen haben die Krise als eine große Überforderung empfunden, Digitale Technologien wurden als Notlösung wahrgenommen. Nun ist der Wunsch spürbar, endlich wieder zu etablierten Unterrichtskonzepten zurückzukehren, statt sich die Frage zu stellen, was veränderte Lernsettings überhaupt bedeuten könnten. Im Moment steht nicht der Entwicklungs-, sondern der Überforderungsgedanke im Vordergrund. 

Selbst wenn die Bereitschaft zur Veränderung da ist: Lassen die Rahmenbedingungen diese überhaupt zu? 

Genau daran müssen wir dringend arbeiten. Es gibt einfach sehr viele Dinge, die nicht mehr zeitgemäß sind: das Arbeitszeitmodell für Lehrende, curriculare Vorgaben, der Schulbau und vieles mehr. Ich denke, wir brauchen einen echten System-Hack, wir müssen das System Schule neu aufsetzen. Aber den Mut hat im Augenblick noch niemand. Was auch daran liegt, dass die Entwicklung nicht prozessorientiert gestaltet ist. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, bringt das System aber nicht mit einer neuen Vision nach vorne.

»Wir brauchen einen echten System-Hack, wir müssen das System Schule neu aufsetzen. «
Silke Müller Schulleiterin, Waldschule Hatten
Was müsste sich ändern? Wie können Lehrkräfte zu Akteur:innen des Wandels werden?

Indem man ihnen zunächst den Raum und die Zeit gibt, den eigenen Unterricht zu reflektieren, am besten in Arbeitsgruppen. Diese müssten dann aber auch gecoacht werden. Wir brauchen generell viel mehr professionellen Input, besonders im Bereich Prozessmanagement. Es reicht eben nicht, sich in neue didaktische Konzepte einzulesen, diese aber nicht im Unterricht verankern zu können. Um wirklich Veränderungen anzustoßen, braucht es Wissenschaft und Professionalisierung.

Wie muss sich Schule ganz grundsätzlich wandeln und welche Kompetenzen zählen in einer zunehmend von digitaler Technologie geprägten Welt?

Wir sollten Schulen öffnen. Zum Beispiel, indem wir Expert:innen in den Unterricht einbinden. Ganz grundsätzlich ist es wichtig, Unterrichtsentwicklung so zu gestalten, dass Schüler:innen selbstwirksame Momente erleben können – auch um zu erkennen: „Meine Stimme zählt“. Denn dies ist ja eine entscheidende Voraussetzung dafür, später überhaupt die Motivation aufzubringen, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Was die Kompetenzen angeht, müssen wir neu in Aushandlungsprozesse gehen und uns fragen: Wir wollen wir in Zukunft leben? Und zwar in der ganz realen Welt, die für mich analoge und digitale Aspekte gleichermaßen umfasst. Wir beschweren uns beispielsweise über den rohen Umgang im analogen wie digitalen Raum, machen uns aber noch zu wenig Gedanken darüber, wie wir diesen regulieren könnten. Um solche Herausforderungen müssen wir uns in Zukunft dringend kümmern.

Silke Müller ist Schulleiterin der Waldschule Hatten in Niedersachsen und Expertin für den digitalen Wandel an Schulen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht neben dem digitalen Lernen das Thema „Digitalen Ethik“, die sie für unabdingbar für den Fortbestand einer friedvollen, demokratischen Gesellschaft hält. Sie absolvierte ihr Studium an den Universitäten Vechta und Augsburg und verbrachte ihre Referendariatszeit an der Bismarckschule Memmingen, wo sie auch bis 2005 als Lehrerin arbeitete. Im Anschluss zog es sie zurück nach Niedersachsen, wo sie zunächst an der HRS Emstek im Landkreis Cloppenburg bis 2009 arbeitete. Seitdem fördert sie das digitale Lernen an der mehrfach ausgezeichneten (u. a. als Bitkom Smart School) Waldschule Hatten. Zudem war die Waldschule Hatten Teil der Werkstatt schulentwicklung.digital des Forum Bildung Digitalisierung.

Auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2021 bietet Silke Müller am 11. November 2021 von 12:45 bis 13:45 Uhr die Session „Social Network, das Netz und wir. Warum Schule und Gesellschaft dringend Augen öffnen und Ohren spitzen muss.“ an. Zudem stellt Judith Exner, Lehrerin an der Waldschule Hatten am 11. November 2021 von 12:00 bis 12:30 Uhr das selbstorganisierte Fortbildungsangebot SOFA vor.