Veranstaltungsbericht | veröffentlicht am 24.09.2020

Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulleitungen stärken. Voneinander lernen in Europa“: Freiräume für den digitalen Wandel

von Klaus Lüber

Am 14. September 2020 trafen sich rund 80 Expert:innen aus Pädagogischen Landesinstituten, Kultusministerien und zivilgesellschaftliche Initiativen zur digitalen Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulleitungen stärken. Voneinander lernen in Europa“. Im Fokus stand die Unterstützung, Fort- und Weiterbildung von Schulleitungen und Leitungsteams im Kontext der digitalen Bildung.

Foto: Michael Setzpfandt / CC BY 4.0

Schulen stehen unter einem enormen Veränderungsdruck – nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wichtige Entwicklungsprozesse müssen angeschoben werden, um Lehrkräfte und Schüler:innen auf neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorzubereiten, die die Digitalisierung mit sich bringt. Eine Schlüsselrolle kommt hier den Schulleitungen zu, den Manager:innen, die den Takt vorgeben und zusammen mit dem Kollegium Entwicklungsziele definieren, wie Stefanie Hubig, Ministerin für Bildung Rheinland-Pfalz und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, in ihren einleitenden Worten zur Fachtagung „Dimension Digitalisierung – Schulleitungen stärken. Voneinander lernen in Europa“ betonte.

Dass dies natürlich eine höchst anspruchsvolle Aufgabe ist und ein hohes Maß an Führungs- und Medienkompetenz verlangt, war einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die digitale Tagung, an der rund 80 Bildungsexpert:innen aus Ministerien, pädagogischen Landesinstituten und Stiftungen teilnahmen. Ziel war es, daran anknüpfend die Frage zu diskutieren, welche Fähigkeiten dies nun im einzelnen sind und welche Rahmenbedingungen und Angebote Schulleitungsteams in der Gestaltung von Bildung in der digitalen Welt unterstützen könnten. Und, vor allem, was man von anderen Ländern, besonders aus unserer europäischen Nachbarschaft, lernen kann.

Mit Klick auf den Play-Button heben Sie die Blockierung auf. Für die Einbindung von Videos nutzen wir YouTube. Dabei werden Ihre Daten auch in den USA verarbeitet, die kein mit der EU vergleichbares Datenschutzniveau aufweisen. Deshalb besteht das Risiko, dass US-Behörden ggf. auf Ihre Daten zugreifen. Wenn Sie der Einbindung von YouTube zustimmen, erklären Sie sich mit der Datenverarbeitung und der Übermittlung in die USA einverstanden. Sie können Ihre Einwilligung in Ihren Cookie-Einstellungen jederzeit widerrufen. Nähere Informationen erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Impulse aus der Schweiz und Estland

Christoph Gütersloh, Leiter im Bereich Schulentwicklung des Pädagogischen Zentrums Basel-Stadt, einer mit den deutschen Landesinstituten vergleichbaren Einrichtung, und Kristina Hermann von Coverdale Schweiz berichteten von ihren Erfahrungen im Projekt „Ausbau der Digitalisierung in Volksschulen“. Entscheidend sei es, so betonten beide, den digitalen Wandel durch einen kombinierten Prozess aus Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung zu fördern. Dabei habe man sich für ein schrittweises, iteratives Vorgehen entschieden und ein Weiterbildungskonzept erarbeitet, das sich auf inkrementelles Lernen und individuelle Beratung konzentriert. „Projekte vorstellen, Bedenken diskutieren, Projekte anpassen“, wie Kristina Hermann die Herangehensweise zusammenfasste. Der entscheidende Vorteil: Man vermeide das Gefühl von Überforderung, immer wieder als Hauptproblem digitaler Schulentwicklung beschrieben, und arbeite sehr ressourcennah und praxisorientiert.

Eine ganz ähnliche Erfahrung teilte Kaarel Rundu, seit 2014 Schulleiter Tallina Saksa Gymnasium in Tallinn (Estland). Was den Umgang mit digitalen Hilfsmitteln im Unterricht angeht, den Estland bereits seit mindestens einem Jahrzehnt konsequent fördert, habe sich eine sehr effektive Kultur des Experimentierens etabliert, so Rundu. Statt zunächst ausführlich über didaktische Fragestellungen zu diskutieren, herrscht die Haltung: erst einmal ausprobieren, was die Tools überhaupt für den Unterricht hergeben. Dann zeige sich in der Regel schon sehr schnell, nach wenigen Wochen, ob es sich überhaupt lohnt, in die Diskussion über eine langfristige Implementierung einzusteigen. 

Dies alles, so betonte Rundu, funktioniere in Estland auch deshalb so gut, weil der Staat seine Rolle als Förderer digitaler Lernformate ernst nehme. Seit 2011 sei ein staatliches Curriculum in Kraft, das digitale Kompetenz zum einen als zentrales Handlungsfeld definiere, zum anderen Freiheit für Handlungsspielräume schaffe, indem Teilziele für längere curriculare Abschnitte definiert werden. Sehr hilfreich, gerade auch in der Corona-Krise, sei das 2002 eingeführte digitale Klassenbuch, mit Link zum Curriculum und vielen Möglichkeiten der digitalen Unterrichtsplanung, vom Versenden von Unterrichtsmaterial bis hin zum Führen von Elterngesprächen.

Handlungsspielräume schaffen

Bei den deutschen Expert:innen traf Rundus Bericht auf offene Ohren, als es im Rahmen des Workshops „Veränderte curriculare Schwerpunktsetzungen“ darum ging, mögliche Gestaltungsfreiräume für Schulleitungen zu diskutieren – ein in Deutschland aufgrund seiner föderalen Struktur besonders anspruchsvolles Thema. Eine zentralere curriculare Schwerpunktsetzung als Ermöglicher von Schulentwicklung, wie Kaarel Rundu es für Estland mehrfach beschrieb, sei hierzulande in dieser Form nur schwer möglich, kommentiert man vonseiten der Teilnehmenden. Einig war man sich darin, die Lehrpläne verschlanken zu müssen, bevor ernsthaft an neue Unterrichtsformate zu denken wäre – etwa durch die Definition von Mindeststandards. 

In einem nächsten Schritt ginge es darum, Schulleitungen darin zu bestärken, moderne Teamarbeit in den Fokus zu stellen und eine Kultur der Flexibilität und des Experimentierens, ganz nach estnischem Vorbild, zu etablieren. Und, vor allem, Strategien zu erarbeiten, die Eltern mit ins Boot zu holen – etwas, was nach Kaarel Rundus Bericht an vielen estnischen Schulen sehr gut klappt. Warum? Weil man sich bemühe, möglichst transparent damit umzugehen, welche Tools zu welchem Zweck im Unterricht eingesetzt werden. Das nehme vielen kritischen Eltern, die es durchaus auch in Estland gebe, die Scheu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Neue alte Kompetenzen

Welche Fortbildung brauchen Schulleitungen in der digitalen Welt? Und wie sollten Fortbildungsangebote gestaltet werden? Das waren die zentralen Fragen, die die Expert:innen im Workshop „Schulleitungsqualifizierung“ diskutierten. Dazu gab es eine intensive Phase, in der man sich zunächst über die Kompetenzen austauscht, die man Schulleitungen in einer digitalisierten Welt überhaupt vermitteln müsse. Mit einem vielleicht überraschenden Ergebnis. Die Beherrschung digitaler Tools steht für die Teilnehmenden längst nicht mehr im Vordergrund. Im Gegenteil, in der erarbeiteten Liste möglicher Kompetenzen fehlte sie ganz. 

Im Grunde gehe es darum, so war man sich einig, ganz klassische Fähigkeiten wie Orientierungsstärke, Prozesssteuerung und Personalentwicklung wiederzubeleben und im Zuge der Digitalisierung vielleicht auch ein Stück weit neu zu denken – ein Punkt, der allerdings im Augenblick noch von viel zu wenigen Akteuren wirklich verstanden werde. Für Fortbildungskonzepte bedeute das zum einen, so einer der zentralen Learnings des Workshops, sich die Mühe zu machen, den Prozess der Digitalisierung und die Notwendigkeit einer Veränderung immer wieder neu zu erklären, statt Begriffe wie „vierte Kulturtechnik“ in den Raum zu werfen, die bedeutungslos blieben, solange sie nicht verständlich seien. Und zum anderen, Weiterbildungsprogramme verstärkt als Netzwerkprozesse zu denken, mit hohem Aktivierungspotenzial der Teilnehmenden und der Möglichkeit, sich intensiv auszutauschen – etwa in Formaten wie Barcamps. Viele Schulen hätten inzwischen wertvolle Erfahrungen gesammelt, auf die man zugreifen könne.

Unterstützung durch die Länder

Anknüpfend an den Impuls aus Estland, in dem klar wurde, wie wichtig institutionelle Unterstützung von staatlicher Seite aus ist, versuchte der Workshop „Unterstützungssysteme für Schulen“ Ideen und Erkenntnisse zu sammeln, welche Rolle pädagogische Landesinstitute in Deutschland spielen können und sollten. Einen Überblick gaben zunächst Joachim Dieterich und Julia Schuhmacher vom Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, Orientierung zu schaffen in einem immer unübersichtlicheren Angebot digitaler Lösungen. Wer sich als Schule bewusst für oder gegen ein Tool entscheiden wolle, brauche verlässlich Informationen und Einschätzungen, etwa zu erforderlichen Kompetenzniveaus zur Fortbildung. Dies sei auf dem Bildungsserver des Landes Rheinland-Pfalz aktuell schon implementiert, so Dieterich.

In ihren Beziehungen zu den Schulen, so ein weiteres zentrales Ergebnis dieses Workshops, sollen die Länder als Partner agieren, der Entwicklungskonzepte kontinuierlich begleitet. Es gehe darum, aus einem Medienkonzept einen Prozess zu machen, brachte es eine Teilnehmerin auf den Punkt. Man solle die Schulleitungen erst nehmen in ihrer Überforderung und ihrem oft aus Hilflosigkeit praktiziertem Einzelkämpfertum. „Jeder macht irgendetwas, man tauscht sich nicht untereinander aus und Externe werden eher als störend empfunden“ – so die Analyse der Teilnehmer:innen. Um dieser wenig konstruktiven Haltung entgegenzuwirken, empfahl man den Aufbau von Learning Communities, sowohl innerhalb des Kollegiums als auch zusammen mit anderen Schulen. 

Verlässliche Strukturen

Wie sinnvoll es ist, solche Communities zu fördern, sehe man zum Beispiel gerade in den USA, betonte Prof. Dr. Esther Dominique Klein, Professorin für Schulentwicklungsforschung und Leadership an der Universität Innsbruck in der Abschlussdiskussion der Tagung. Dort hätten sich Schulleitungen sehr schnell und erfolgreich miteinander vernetzt, um besser auf die Herausforderungen der Corona-Krise reagieren zu können. Leider sehen sich noch viele Schulleitungen in Deutschland in der Rolle von Einzelkämpfer:innen – für Klein auch eine Spätfolge einer auf Eigenverantwortung setzenden Bildungspolitik, die sich mit Unterstützungsangeboten lange zurückgehalten habe.

Besonders zu spüren sei dies am Konzept der Medienentwicklungspläne im Rahmen des Digitalpaktes, so Karin Stolle, Schulleiterin der Schule an der Jungfernheide Berlin. Hier gebe es viel zu wenig institutionelle Unterstützung, was ausgerechnet die Schulen benachteilige, die noch über wenig digitale Kompetenzen zur Ausarbeitung eines schlüssigen Entwicklungsplans verfügen, eine solchen aber besonders nötig hätten. Hier müsse mehr getan werden, bekräftigte auch Jacob Chammon, Vorstand des Forums Bildung Digitalisierung: Es könne nicht sein, dass sich zu Förderangeboten immer nur die Motivierte meldeten. Wenn große Aufgaben zu lösen seien, brauche es Partizipation. Und die Bereitschaft zu wirklicher Veränderung, wie Udo Michallik, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz , ergänzte.

Gerade die aktuelle Krise böte die große Chance, so Michallik, viele scheinbar fest etablierten Elemente unseres sehr formalisierten Schulsystems grundsätzlich infrage zu stellen. Wer Schulleitungen das Mega-Thema Digitalisierung ganz oben auf den ohnehin schon umfangreichen Stapel abzuarbeitender Aufgaben packe, müsse auch den Mut haben, sich von einigen der Dinge ganz unten zu verabschieden. Dabei ginge es gerade nicht darum, mit großem Aktionismus angebliche Top-Lösung herbeizuzaubern. Viel sinnvoller sei es, auch nach skandinavischem Vorbild, in kleinen Schritten vorzugehen und mit einer angemessenen Dosis Demut anzuerkennen, in welch tiefgreifendem Transformationsprozess wir uns gerade befinden. Dann hätte man auch gute Chancen, genau diejenigen Freiräume zu schaffen, die wirklichen Wandel möglich machen.

In jedem Fall bleiben die behandelten Themen der Fachtagung auch in den nächsten Wochen und Monaten weiter relevant. Auch 2021 wird das Forum Bildung Digitalisierung deshalb gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz eine Fachtagung mit ähnlichen Schwerpunkten durchführen und das erfolgreiche Format mit den Expert:innen aus den Pädagogischen Landesinstituten und Kultusministerien fortführen.