Schulentwicklung als Update

Foto: Katja Anokhina / CC BY 4.0
Foto: Katja Anokhina / CC BY 4.0
Let’s remix! Software Studies sind ein interdisziplinäres Forschungsfeld – ein Zweig der Medienwissenschaften, der sich mit Softwaresystemen und deren Auswirkungen auf die Kultur beschäftigt. Schulentwicklung als Teil der Bildungswissenschaft versteht Schule als lernende Organisation. Welche Schnittstellen entstehen, wenn man diese zwei Ansätze zusammenbringt?
Wir haben ein wissenschaftliches Gedankenexperiment gewagt. Im Diskurs um die #digitaleBildung haben wir uns gefragt, was genau digital heißt – aus medienwissenschaftlicher und informatischer Sicht – und wie diese Definition mit dem bildungswissenschaftlichen Ansatz der Schulentwicklung zusammenspielen kann. Zwei zunächst grundlegend getrennte Ansätze wurden aufeinander bezogen und daraus sind Schnittstellen entstanden, die helfen können, #digitaleBildung ganzheitlich zu verstehen.
Software ist viel mehr als nur ein Code, der den Programmierenden etwas sagt, für die anderen aber eher nach einem Rätsel aussieht. Die Forschenden im Bereich der Software Studies gehen davon aus, dass die Softwarestruktur und die logischen Zusammenhänge im Quelltext enorm kulturelle und gesellschaftliche Prozesse beeinflussen.
„Software is an actant in the world; it possesses agency, explicitly shaping to varying degrees how people live their lives“ (Kitchin/Dodge 2011, S. 39).
Die Software bzw. das Digitale basiert auf fünf Prinzipien, die Lev Manovich in „The Language of New Media“ (2001) ausformuliert hat:
Schulentwicklung ist ein komplexer Prozess, in dem Schulen ihr eigenes Handeln analysieren, reflektieren und in abgestimmten Prozessen weiterentwickeln und optimieren. Hans-Günter Rolff (1999) definierte zunächst Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwicklung als Aspekte von Schulentwicklung, die Renate Schulz-Zander (2001) mit Blick auf die Verbreitung digitaler Technik um Kooperations- und Technologieentwicklung ergänzte.
Und was passiert jetzt, wenn die Prinzipien des Digitalen und die Dimensionen der Schulentwicklung miteinander verschränkt werden? Modellhaft ist das in der Grafik dargestellt.
Es entstehen Schnittstellen. Diese Schnittstellen beschreiben die aktuellen Entwicklungen im Bildungsbereich – wie Peer-to-Peer-Fortbildungen für alle Akteure, neue Raumkonzepte, zeitliche Entgrenzung des Lernens usw. – und systematisieren sie auf eine ungewöhnliche Art und Weise.
Die Schule – oder breiter gefasst – das Bildungssystem, muss sich auch ständig aktualisieren und weiterentwickeln, damit sie „kompatibel“ mit der Gesellschaft bleibt.
Spannend ist dabei die Parallele zwischen dem Update als zentrale Eigenschaft der Software und dem Konzept der Schulentwicklung. Die Software muss ständig aktualisiert und weiterentwickelt werden, damit sie kompatibel mit anderen Softwareprogrammen und der Hardware bleibt und nicht stirbt. Die Schule – oder breiter gefasst – das Bildungssystem, muss sich auch ständig aktualisieren und weiterentwickeln, damit sie „kompatibel“ mit der Gesellschaft bleibt. Die Schulentwicklung kann man also – metaphorisch – als ein Update für Schule verstehen.
Anhand der Beispiele für die Schnittstellen wird dieser Gedanke deutlicher.
Wenn man zum Beispiel auf die Schnittstelle zwischen Unterrichtsentwicklung und numerischer Repräsentation schaut, sieht man den Leitmedienwechsel. Dieser besteht laut Döbeli Honegger im Übergang vom Buch zum vernetzten Computer als Leitmedium. Ob Bild, Text, Video oder jede andere Darstellungsform – alles wird numerisch repräsentiert und in Bits übertragen. Bits sind die „digitale Lingua Franca“ (Negroponte 1995, S. 82). Für Unterrichtsmaterial bedeutet das den Wechsel vom Lehrmittel zum Lernmittel, also von eher instruktional orientierten Lehrmedien zu eher konstruktiv orientierten Lernmedien (vgl. Petko 2010, S. 43). Die Lernmaterialien entwickeln sich durch die digitalen Verbreitungswege zu Materialnetzwerken – einem dynamischen Konstrukt (Hypertext), das sich von der linearen Schulbuch-Logik verabschiedet und sich als offenen Prozess versteht („Products become […] processes“, Kelly 2016, S. 6). Solche Lernmaterialien unterstützen offene und kollaborative Arbeitsweisen.
An der Schnittstelle von Unterrichtsentwicklung und Variabilität entsteht Peer-to-Peer-Lernen. Die aktuellen Veränderungen im Bildungsbereich durch den digitalen Wandel sind unter anderem durch Vielfalt und Variabilität der Rollen sowie der Akteure gekennzeichnet. Lehrende nehmen in Lernprozessen verschiedene Rollen ein und agieren dabei als ermöglichende, fördernde, entwickelnde, gestaltende, bewertende, vortragende oder mitspielende Akteure (vgl. Reich 2017, S. 17) – und natürlich auch selbst als Lernende. Die Lernenden können im Gegenzug die gewöhnlich für Lehrende vorgesehenen Rollen einnehmen, also beispielsweise als Vortragende, Forschende, Gestaltende, Bewertende. So werden wechselseitige Lernprozesse unter Lernenden ermöglicht. Das so genannte Peer-to-Peer-Lernen überwindet die rein reproduktive Wissensaneignung und ermöglicht vernetztes und werteorientiertes Lernen – vor allem in heterogenen Lerngruppen und inklusiven Lernumgebungen.
An der Schnittstelle von Variabilität und Technologieentwicklung unterscheiden sich Ausstattungs- und Supportkonzepte. Mit der Verbreitung der Internetnutzung sind digitale Medien zu Lernwerkzeugen in allen Bereichen des schulischen Lernens geworden. Technik wird also ubiquitär und sollte sich – ein bislang oft nicht eingelöstes Versprechen – selbst unsichtbar machen und nahtlos in Lernumgebungen integrieren können. Zur Realisierung einer ubiquitären und störungsfreien technischen Ausstattung gibt es vielfältige Möglichkeiten. Die konkret genutzte Technik kann je nach Lernsituation neu arrangiert werden. Die eine richtige Ausstattung gibt es also nicht, sie ist variabel. Hinzu kommt, dass Technik in immer schnelleren Zyklen aktualisiert wird. Software ist noch schneller veraltet als Hardware, ein Ausstattungsszenario könnte also morgen schon wieder anders gestaltet werden. Eine homogene Ausstattung, wie sie vielen als Idealzustand erscheinen mag, erweist sich unter diesen Voraussetzungen als Illusion, die darüber hinaus die Vielzahl didaktischer Möglichkeiten einschränkt. Sie steht einer kontinuierlichen und partiell asynchronen Aktualisierung im Weg, die immer nur Teile der Gesamtausstattung verändert.
In diesem Gedankenexperiment wurden die Prinzipien des Digitalen genutzt, um aktuelle Phänomene der Schulentwicklung zu beschreiben. Es geht dabei nicht um Neudefinitionen. Der Ansatz kann aber helfen, vermeintlich vertraute Zusammenhänge neu und anders vernetzt zu interpretieren. Die Schule unter den Bedingungen der Digitalität ist einem permanenten Update unterworfen und der Wandel, die Veränderung, wird zum wesentlichen Kontinuum.
Lizenz des Blogbeitrags: Katja Anokhina und Richard Heinen / CC BY 4.0
Der vollständige Artikel, den Sie hier downloaden können, ist zuerst erschienen in:
Anokhina, Katja / Heinen, Richard (2020). Schnittstelle Software Studies und Schulentwicklung – ein interdisziplinärer Ansatz für Schulentwicklung im digitalen Wandel. In: Knaus, Thomas / Merz, Olga [Hrsg.]. Schnittstellen und Interfaces. Digitaler Wandel in Bildungseinrichtungen, Band 7. Schriftenreihe fraMediale. Kopaed, München. – S. 187-206.
Döbeli Honegger, Beat (2016): Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt, Bern: hep
Kelly, Kevin (2016): The Inevitable – Understanding the 12 Technological Forces that will Shape Our Future, New York: Penguin Random House
Kitchin, Rob/Dogde, Martin (2011): Code/Space – Software and Everyday Life, Cambridge, Massachusetts: MIT Press
Manovich, Lev (2001): The Language of New Media, Cambridge, Massachusetts: MIT Press
Manovich, Lev (2013): Software Takes Command, Cambridge, Massachusetts: MIT Press
Negroponte, Nicholas (1995): Total digital – Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation, München: Bertelsmann [24.03.2019]
Petko, Dominik (2010): Neue Medien – Neue Lehrmittel? Potenziale und Herausforderungen bei der Entwicklung digitaler Lehr- und Lernmedien, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 28 (1), S. 42–52 [24.03.2019]
Reich, Kersten (2017): Inklusive Didaktik in der Praxis. Beispiele erfolgreicher Schulen, Weinheim/Basel: Beltz
Rolff, Hans-Günter (1991): Schule als soziale Organisation. Neuere Entwicklungen in der Organisationsanalyse, in: schul-management 22 (2), S. 26–30
Schulz-Zander, Renate (2001): Neue Medien als Bestandteil von Schulentwicklung, in: Aufenanger, Stefan/Schulz-Zander, Renate/Spanhel, Dieter (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 1, Opladen: Leske+Budrich, S. 263–281
Katja Anokhina ist Projektmanagerin im Projektbereich Bildung im digitalen Wandel bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft. Sie hat Journalistik, Interdisziplinäre Medienwissenschaft und New Media Design and Production in Russland, Deutschland und Finnland studiert. In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit dem Thema Schnittstelle der Software Studies und Schulentwicklung beschäftigt. Im vorliegenden Beitrag wurde die Idee ihrer Masterarbeit weiterentwickelt.
Richard Heinen ist Geschäftsführender Gesellschafter der learninglab GmbH. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Schulentwicklung im digitalen Wandel, die Vernetzung von Schulen in diesen Transformationsprozessen sowie die Entwicklung von offenen Lernmaterialien und der dafür erforderlichen Lerninfrastrukturen.